Uns gehört nur die Stunde. Und eine Stunde, wenn sie glücklich ist, ist viel. (Theodor Fontane)
Vor kurzem wurden die Uhren wieder auf Sommerzeit umgestellt. Der Gedanke an Sommer lässt uns innerlich strahlen, jedoch empfinden wir diese eine Stunde, welche die Uhr nach vorne gestellt wurde, als Zeitverlust. Eine ganze Stunde – was hätten wir da alles tun können! Länger schlafen. Die Wohnung aufräumen. Viele Menschen rennen der Zeit hinterher, weil sie noch schnell etwas erledigen wollen oder müssen. Berufstätige Eltern, die ihre Kinder in ihren Alltag integrieren und sich selbst und ihre Kinder organisieren müssen. Singles, die viel arbeiten, um eine Position höher zu steigen. Paare, die neben dem Berufsleben ihren Hobbies und sozialen Kontakten nachgehen. Gefühlt sind die Tage einfach zu kurz, um alles zu schaffen.
Doch es gibt Menschen, die haben mehr Zeit als andere. Oder besser gesagt: Sie haben genau so viel Zeit wie wir alle, doch ihre Tage sind leer. Ich spreche von Seniorinnen und Senioren, die aus den verschiedensten Gründen warten, dass sie abends wieder zu Bett gehen können.
Neulich traf ich eine Seniorin beim Spazierengehen im Ort – mein „Guten Tag“ eröffnete ein Gespräch, das mich berührt hat. Ich lief ihr entgegen, während sie auf ihrem Rollator saß und ihr weißes Haar und ihr helles Gesicht in die Sonnenstrahlen hielt. „Guten Tag“ sagte ich zu ihr, so wie man es in einem kleinen Ort höflicherweise Fremden gegenüber tut. Die alte Dame öffnete die Augen und sah mich an, ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus und sie erwiderte meinen Gruß. Während des Gesprächs erfuhr ich einiges aus ihrem Leben und spürte, dass es ihr gut tat, sich einfach nur mitzuteilen. Denn sie war die meiste Zeit am Tag allein. Sie wohnt in einem Haus um die Ecke, gemeinsam mit ihren Enkeln. Ihre einzige Tochter verstarb vor über 20 Jahren an einer Lungenembolie – sie schien immer noch nicht über diesen Schmerz hinweg zu sein. Der Mann der Seniorin, so sagte sie, sei an dem Verlustschmerz gestorben, er habe es nicht mehr ausgehalten. Als ihre Enkel dieses Haus kauften, baten sie ihre „Omi“: „Komm doch mit Omi, wir haben ein wunderschönes Haus gefunden, in dem eine Wohnung für dich ist. Du kannst dann bei uns sein und bist nicht mehr allein, Omi“. Die Seniorin gab ihr altes Haus in der Stadt auf und zog mit den Enkeln aufs Land. Doch sie fühlt sich einsam. „Ich bin kein Pflegefall“, beteuert sie. „Naja, ein bisschen Pflege brauche ich schon. Aber nicht ständig. Sehen Sie, ich kann alleine laufen, klar denken und mir mein Essen selbst zubereiten.“ Das glaube ich der rüstigen Seniorin aufs Wort! „Ich habe überlegt, ob ich in ein Pflegeheim gehen soll. Doch so viel Pflege brauche ich nicht.“ Ihre Enkel sind den ganzen Tag arbeiten und in ihrem eigenen Alltag verwoben. Da bleibt nicht viel Zeit, sich mit Oma in die Sonne zu setzen. „Gibt es keine Freizeitaktivitäten hier für Senioren?“ wage ich mich zu fragen. „Ab und zu findet ein Tanztreff statt, aber der wird häufig abgesagt – so auch heute“, sagte sie enttäuscht. Soziale Kontakte konnte sie in dem Dorf noch keine knüpfen – und ihre „alten“ Freunde aus der Stadt verstehen nicht, weshalb sie diesen Schritt in das neue Zuhause gegangen ist. „Sie rufen mich nicht einmal mehr an. Einmal habe ich meine alte Nachbarin angerufen. Sie hat drei Kinder. Ich war immer für sie da, wenn sie mich gebraucht hat. Als ich sie anrief, sagte sie, es sei gerade ganz schlecht und legte auf. Hat man nicht immer fünf Minuten Zeit, um zu telefonieren?!“. Offensichtlich nicht. Die Seniorin, die zu Beginn unseres Gespräches noch in der Sonne sitzend glücklich zu sein schien, offenbarte zunehmend ihre Traurigkeit. Was sie braucht, ist Zuwendung und gemeinsame Zeit. Das, was kaum jemand von uns noch geben kann, weil wir so gehetzt sind von unserem Alltag – es gibt so unendlich viel zu tun.
Was gut gemeint war – mit „Oma“ in ein Mehrgenerationenhaus zu ziehen – hat nicht den gewünschten Effekt gebracht: Die Seniorin fühlt sich trotzdem einsam. „Manchmal höre ich die Stimme meiner Tochter nach mir rufen. Und ich öffne die Augen und sehe nichts. Sie ist nicht da.“ Diese Aussage der Seniorin deutet auf so vieles hin. Sie vermisst ihre Tochter immer noch sehr. Sie wäre gerne bei ihr. Sie fühlt sich allein gelassen. „Gerne möchte ich öfter das Grab meiner Tochter besuchen. Aber es muss jemand Zeit haben, um mich zu fahren. Alleine komme ich nicht hin.“ Da ist sie wieder, die fehlende Zeit ihrer Mitmenschen.
So fit und rüstig diese Seniorin noch ist, es fehlt ihr jedoch an Möglichkeiten, die Dinge zu unternehmen, die sie sich wünscht. Es fehlt an Zuwendung und Anerkennung, um ein erfülltes Leben im hohen Alter zu leben. Eine Pflegekraft, die 24 Stunden an ihrer Seite wäre, daran denkt die Seniorin nicht. Doch es geht nicht nur um die körperliche Pflege – es ist die Pflege der Seele, die einem Menschen Lebensfreude und Wohlbefinden geben kann. Keiner möchte überflüssig sein, eine Last für andere sein. Wir müssen lernen, richtig mit dieser Situation umzugehen und auf die Bedürfnisse unserer Mitmenschen – in diesem Fall der Senioren – einzugehen. Ein gemeinsames Zuhause ist nicht die Universallösung gegen das Alleinsein im Alter. Die geeignete 24-Stunden-Bertreuung kann Teil der Familie werden und das geben, was unser Alltag oft nicht zulässt: Zuwendung.
„Mein Urenkel sagte letztens zu mir: ‚Omi, du darfst nicht sterben.‘ – Aber was, wenn der liebe Gott mich ruft? – ‚Dann darf Gott dich eben nicht rufen!‘ – Stellen Sie sich vor, ein 7jähriger Junge sagt so etwas“ sagt die Seniorin voller Stolz. Und ein Funke Freude taucht wieder in ihren Augen auf. Ihre Familie braucht sie. Und sie braucht die Zuwendung ihrer Familie.